Hans Sahl: Die Letzten

Wir sind die Letzten.
Fragt uns aus.
Wir sind zuständig.
Wir tragen den Zettelkasten
mit den Steckbriefen unserer Freunde
wie einen Bauchladen vor uns her.
Forschungsinstitute bewerben sich
um Wäscherechnungen Verschollener,
Museen bewahren die Stichworte unserer Agonie
wie Reliquien unter Glas auf.
Wir, die wir unsre Zeit vertrödelten,
aus begreiflichen Gründen,
sind zu Trödlern des Unbegreiflichen geworden.
Unser Schicksal steht unter Denkmalschutz.
Unser bester Kunde ist das
schlechte Gewissen der Nachwelt.
Greift zu, bedient euch.
Wir sind die Letzten.
Fragt uns aus.
Wir sind zuständig.

EXIL - Kammerszenen. Zur Dramaturgie einer Produktion

 Wann ich „Die Letzten“ zum ersten Mal las, ist mir nicht mehr in Erinnerung. Mit Sicherheit reicht es weit zurück. Noch genau ist mir aber erinnerlich, wie mich der bittere Ton dieses Gedichts, sein Balancieren auf der Rasierklinge getroffen hat. Ist das noch Ironie oder schon der Gestus der sarkastischen Verzweiflung? Das Schicksal, das unter Denkmalschutz steht. Das schlechte Gewissen der Nachwelt als bester Kunde. Und dann noch die Forschungsinstitute, die Museen, die sich um Wäscherechnungen bewerben, sie zu Exponaten erklären, in Schaukästen legen. Worüber beugen wir uns da? – 
 
Zur Ehre der hier sehr spitz ins Spiel gebrachten Forschungsinstitute muss natürlich gesagt werden, dass wir noch schlimmer dastünden ohne deren in Lauterkeit und Gerechtigkeitswillen gegründeten Einsatz, am Start noch dazu zu einer Zeit, als die Exilierten in jeder Hinsicht die unliebsamen Vertriebenen waren. Das muss man einmal gegeneinanderstellen, sich die groteske Disproportion vor Augen führen. Hier, installiert für die Vertriebenen aus ehemaligen deutschen Ostgebieten, ein mächtiges Verbandswesen, ja, 1949, mit Gründung der Republik im Westen ein eigenes Bundesministerium, dessen Personal und Netzwerke wie in allen übrigen Institutionen des westdeutschen Nachfolgestaats locker in die NS-Zeit zurückreichten. Man kennt sich, man hilft sich. 
Und auf der anderen Seite, was ist dort? – – – Hier stock‘ ich schon, wer hilft mir weiter fort? – – – Dass wir ins Grübeln geraten, sobald wir Fürsprecher, Anwälte (von Lobby gar nicht zu reden) der Exilierten nennen sollen, ist natürlich signifikant, der Nachholbedarf eklatant, weswegen die Präsenz eines Deutschen Exilarchivs ebenso Glück wie Segen ist, nicht anders wie das Exilmuseum, das auf Intitiative der Literatur-Nobelpreisträgerin Herta Müller jetzt am Anhalter Bahnhof entsteht. Womit Sahl natürlich keinswegs ins Unrecht gesetzt ist. Es ist die Bitterkeit des Exils, die aus „Die Letzten“ spricht. Das gilt es zu verstehen, auszuhalten.
 
Und dann ist da noch etwas, das mir erst allmählich zu Bewusstsein gekommen ist. Unausdrücklich stellt das Gedicht eine Frage: Was ist, wenn die Letzten gegangen sind? Was tritt an deren Stelle? Tritt überhaupt etwas an die Stelle? – – – 
 
Die Frage steht schon des Längeren im Raum. Wer oder was leistet Zeugnis, wenn die Zeitzeugen gegangen sind? Es liegt eine Schwere darin. Wie in jedem Nie mehr. Gegen die Redensart vom Gras, das drüberwächst, hat Hans Mayer, auch ein Exilierter, daran erinnert, dass unter dem Gras die Toten liegen. Und darüber, wäre zu ergänzen, die Grabsteine. Wenn überhaupt. Das Exil, namentlich das Exil der Künste, ist eine Geschichte von Verlusten. Ein Satz, der nicht deswegen unwahr wird, wenn wir die Staunen machende Liste der im Exil entstandenen Kunst aufrufen, der Literaturen, der Zeitschriften, der Gesellschaftsphilosophien der Gebildeten, genauer, derjenigen, die nicht bereit gewesen waren, die Aufklärung zu verraten, wozu hier auch die unter die Haut gehenden Zeichnungen, Bilder der Charlotte Salomon zu rechnen sind, für die die Angabe Bildende Künstlerin ein wenig zu unemotional ist, wenn man sich ihr Schicksal vergegenwärtigt, ebenso wie das der Komponisten, die, anders als Maria Herz, die Kraft aufbrachten, auch im Exil weiterzuschreiben. 
 
Was ist, wenn die Letzten gegangen sind? Was tritt an deren Stelle? – – – Dass es gar nicht so einfach ist, das Unwiederbringliche anzuerkennen, ist wohl auch der Grund für die Munterkeit so mancher technologieoffener Restaurateure, die aus Abbildern von Verschwundenen raffinierte Hologramme zaubern, virtuelle Platzhalter generieren, um sie, wie sie sagen, „mit Leben zu füllen“. Man möchte diesen Ingenieuren des wegeskamotierten Verlusts einmal eine Frage stellen: Was könnt Ihr sagen über eine Blume auff dem felde, deren Schicksal der Psalmist in den Worten des D. Martin Luther: Die gantze Heilige Schrifft Deudsch, Wittenberg 1545, wie folgt beschreibt: Wenn der Wind darüber gehet / so ist sie nimmer da / Vnd jr stete kennet sie nicht mehr. 103, Vers 16. Was, wenn die Letzten gegangen sind? Was tritt an deren Stelle? Tritt überhaupt etwas an die Stelle? – – – Diese Theaterproduktion, die in jeder Zeile, jeder Geste aus Erfahrung besteht, aus Erfahrungen von Exilierten, ganz gleich in welcher Form sie auftreten, als gesprochenes, geschriebenes oder als geträumtes, albgeträumtes Wort, das anderntags als Nacht-Traum-Poesie, als Nacht-Traum-Musik, und hier kommt wieder Hans Sahl ins Spiel, in den Zettelkasten getragen wird – diese Theaterproduktion füllt nicht die Lücke, sie stellt die Frage danach. 
 
Postskriptum
Gelegentlich werde ich mit der Frage konfrontiert Wie kommst Du eigentlich zu Deinen Themen, zu all diesen Namen? – Ich kann darauf, in aller Bescheidenheit, nur antworten: Sie kommen zu mir. – Wobei, ursächlich in meinem Fall eine von mir seit etlichen Jahren betreute Sendereihe im Deutschlandfunk ist, in der die Gesprächskonzerte des Berliner Fördervereins musica reanimata in eine radiophone Öffentlichkeit übersetzt werden. Eine Medienpartnerschaft, die dafür sorgt, dass die projektierte Wiederentdeckung ns-verfolgter Künstler und ihrer Werke eine inzwischen ebenso ansehnliche wie anhörbare Anthologie akkumuliert hat. Denn so sehr es ja richtig ist, dass man das Exil der Künste in die abgedunkelten Ecken unseres Aufmerksamkeitsbewusstseins abgedrängt hat (so geschehen, wie wir vom Komponisten und Exilforscher Juan Allende-Blin erfahren, noch in den 1980-er Jahren), genauso richtig ist es eben auch, dass es die Forschung ist, und zwar nicht nur die institutionalisierte, die dagegen hält, die nicht müde wird, uns die Namen der exilierten Künstler zu soufflieren. Jüngst auch den von Maria Herz.  
 
Georg Beck
 
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